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FRAGE AKKUSATIV - ABGELEGT

Und wie viel Platz gibt man am Anfang? Herrje, da muss man viel beachten. Und welche Art von Pflanze gedenke ich mir zuzulegen? Also welche Art von Gedanken pflanze ich?

Wen oder was? Aus unserem Bewusstsein erstellen wir ein eigenes Wertesystem um uns im Konstrukt der Welt zurecht zu finden. Das Bewusstsein ist eigentlich eine ständige Entwicklung in der Selbstreflexion während wir mit uns selbst reden - und mit anderen. Wir sind im Grunde aber ständig dabei uns selbst etwas zu erzählen, den ganzen Tag eine eigene Geschichte, wobei uns nicht unbedingt bewusst ist, dass es sich um eine Geschichte handelt. Ein Inhaltsverzeichnis gibt es nicht. Nicht wirklich jedenfalls. Man kann ahnen oder auch wage vermuten und vielleicht ein wenig beeinflussen in welche Richtung die einzelnen Handlungen der Kapitel sich neigen, jedoch erzählt man sich ja nicht gleich wie es ausgehen wird. 


Wenn ich jemandem eine Geschichte erzähle, dann greife ich das Ende ja auch nicht schon zu Beginn vorweg sondern erzeuge Spannung. Ich erzeuge Wirklichkeit indem ich in der gleichen Reihenfolge berichte, in der ich die Geschichte auch erlebt habe. Das heißt, ich beginne an dem Punkt der, ja, Unschuld. An dem Punkt an dem ich noch nicht weiß was geschehen wird, wie lang dieser Abschnitt, dieses Kapitel, dieser Tag, diese Geschichte werden wird und an dem Punkt, an dem ich noch davon ausgehe, dass alles so wird wie in der Geschichte zuvor. Oder der Tag wie jeder andere. 


Ich gehe jenen Morgen den selben Weg zum Obststand, mit dem selben Beutel um die Schulter und dem selben schnellen Schritt um dem Tag Geschwindigkeit zu geben. Dabei immer eine kleine Auswahl an Leseproviant. Eine Zeitung oder ein Buch eine Zeitschrift und mal ein Notizheft um mir eventuell schnell Dinge notieren zu können, die mir in den Sinn kommen und für später nochmal wichtig erscheinen. Dann setze ich mich auf den selben von der Sonne vorgewärmten Vorsprung der Fassade, der mir in der Früh wie meine eigene kleine Terrasse am Eck erscheint. Heute habe ich mich für eine Orange entschieden. Dumme Idee. Klebrige Finger, klebrige Lippen. Unsittliches schlürfen um irgendwie die Frucht nicht im Ganzen aber ganz zu verputzen. Die Schale halb auf dem Boden und neben mir verteilt und so kann ich mein Buch jetzt auch nicht mehr anfassen. Also packe ich meine Sachen irgendwie mit den letzten halb sauberen, gespreizten Fingerspitzen zusammen und mache mich auf den Rückweg. Aus meinen Gedanken dieses nun holprigen Starts holen mich jedoch Schritte die ich schnellerwerdend hinter mir wahrnehme. Jemand der mir gleich auf die Fersen steigt, denke ich. Ich gehe einen Schritt schneller. Folgt er mir oder geht er nur zufällig in meine Richtung? Ich nehme einen Umweg und steuere eine Straße weiter an und biege rechts ab obwohl es nicht mein Weg ist. Die Schritte folgen mir. Ich werde nervös, schließlich drehe ich mich um - ohnehin schon leicht gereizt: "Folgen Sie mir?!" - niemand da. Merkwürdig. Wieder Blick Richtung Kurs - Ein leises "Huch!" entkommt mir. Plötzlich ein fremdes Gesicht vor meinem. Fast wäre ich ihm nun wohl auf die Zehen gestolpert. Große braune Augen starren mich stumm an. Ein junges freundliches Gesicht. Harmonisches und federleichtes Blinzeln, so wie es Ruhe ausstrahlt. Mein Notizheft in der Hand und mir wortlos entgegengestreckt. Irgendwie, mit Orangenschalen und Buch in der Hand, nehme ich es mit pappigen Fingern entgegen. "Danke."

Kein Wort. Er geht den Weg zurück, den wir gekommen sind. Ich weiter und nachhause.


Also kaum erzählt man ausgelassen vor sich hin - die überraschende Wendung. Diese Fährten haben sich sicherlich irgendwo geschickt vorbereitet, aber wüsste man gleich was kommt, ließe sich ja kaum dieses intensive Lebe-Lese-Erzähl-Erlebnis verschaffen.

Kein Wunder, dass einem da auch mal kurz den Wald vor lauter Bäumen nicht ganz ersichtlich ist. Stehen hier überhaupt Bäume? Und wie soll man da dann bloß aufräumen? Ablegen, mit und in Ordnern - eher schwierig. Mit oder in Schubladen? Oder doch eher wie Pflanzen? Sie wachsen lassen, abnehmen, neu verpflanzen, neu wachsen lassen? Oder wie macht man das? Hauptsache Wasser. Und Erde. Klar, sie brauchen ja auch Boden, worin sie Wurzeln schlagen können. Nur nicht zu fest darf er sein und nicht zu grob- oder feinsandig. Auch nicht zu feucht oder gar zu trocken. Keine direkte Sonneneinstrahlung. Und wie viel Platz gibt man schon am Anfang? Herrje, da muss man viel beachten. Und welche Art von Pflanze gedenke ich mir zuzulegen? Also welche Art von Gedanken pflanze ich?

Jedenfalls also erstmal ablegen und damit zulegen. Zu legen. Zu wem oder was eigentlich? Und mache ich mir Gedanken über meine Eigenschaften, Eigenheiten, Eigenarten? Und hier bin ich wieder am Punkt der Unschuld. Am dem Punkt, an dem ich die geringste Ahnung habe. Jegliche Anweisungen kommen wir wie Bühnenfallen vor und Übergänge, wie ich von Gedanke A zu Gedanke B wechsle erscheinen mir künstlich. Wie bin ich dort hin gelangt? Diese Überlegungen entspringen lediglich meinem Wunsch, mir bewusst zu machen, wie viel harte Arbeit in deren Vorbereitung steckt aber das Ergebnis besteht ja am Ende aus einer Reihe von Handlungen und nicht aus all den Übergängen. 

Also ohne mir großartig zu erzählen, wie ich von Gefühl oder Gedanke A zu B oder zu einem anderen Buchstaben gelange und wie ich was wohl tun könnte - Tu ich es.

Ich erzähle mir zwar weiterhin bewusst Geschichten im Wertesystem aber beende das eine Kapitel mit einem Punkt, gehe auf eine neue unbeschriebene Seite und beginne mit dem ersten unschuldigen Gedanken, der mir in den Sinn kommt und schreibe drauflos. Ich bin jetzt schon selbst ganz gespannt wohin es und mich führt und spüre meine Mundwinkel sich, noch leicht verirrt, nach oben biegen. Jetzt erstmal unter die Dusche. Haare und Gesicht aufräumen. Ordnen.


Ich klappe das Notizheft zu. Ein kleiner Zettel segelt hastig auf den Boden. Nicht von mir und nicht meine Schrift. Dem Anschein nach entziffere ich monströse spanische Vokabeln. Und eine Adresse eines niederländischen Planzenhändlers. 






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